Große Augen; wie schwebend im Strom tanzendes Grün; glänzende Leiber und huschende Flossen; silbrige Perlen aus Luft. Stundenlang könnten die Augen sich ausruhen in dieser Welt außerhalb der Welt. Was denken Fische? Was fühlen sie? Kennen sie Liebe? Oder nur das Zeugen von Nachkommen, sind sie auch innen so kühl und glatt... Kommunizieren sie, oder sind sie einsam mitten im Schwarm?
Warum stellst du dir solche Fragen, es kann sie dir doch keiner beantworten.
Sie zog ihre Augen weg vom Aquarium, zog sie ihren Gedanken nach, die den Glaskasten im Grunde schon längst gegen ihr Inneres ausgetauscht hatten. Wieder einmal.
Warum bin ich einsam inmitten des Schwarms? Was ist das für eine Sehnsucht, und weshalb habe ich keine richtigen Freunde?
Sie sprang auf: muss jetzt etwas anderes machen, muss mich bewegen, die Gedanken vertreiben, muss glücklich sein.
Das Gefühl, das für sie am nächsten an Glück herankam, fand sie in der Stadt, in der anonymen Welt der Fußgängerzone, wenn sie vor Schaufenstern stand und träumte, so schön möchte ich sein, auch wenn sie genau wusste, die Kleider passten nicht zu ihr, so modisch uniform, wie sie eigentlich doch niemals sein wollte.
Noch besser war es, wenn sie einfach nur schlenderte, beobachtete, sich klein und groß zugleich vorkam zwischen all diesen Menschen. Sie trank mit den Augen, fing Eindrücke ein - dort der Mann mit dem Kind in der Rückentrage, ein bärtiges Gesicht, Lächeln und ausgefranste Jeans - die Frau mit der Plastiktüte, ihr Haar fettig und ungekämmt, wovon kam das Alter in ihrem Gesicht? - sausende Inline-Skates mit einem vorbeirollenden Eindruck dieses Jungen mit der coolen Teenie-Maske - und wusste doch hinterher nichts mehr, weil die vielen Gedanken, die durch den Durchgangsbahnhof ihres Gehirns rasten, keinen Platz dafür ließen.
Es war Frühling, der Himmel war blau, und sie war wieder einmal allein hier.
Jemand grüßte im Vorbeigehen, sie grüßte mechanisch zurück. Irgendwo begann einer, Geige zu spielen, ein springendes, fröhliches Lied. Es klang schön, und doch tat es in ihren Ohren weh, sie wollte das jetzt nicht hören, nicht so etwas. Wie von selbst begannen ihre Beine zu rennen, und es tat gut.
Sie rannte weiter, als sie den Geiger längst nicht mehr hören konnte, rannte durch die ganze Fußgängerzone, nach links, durch zwei weitere Straßen und dann lange geradeaus. Und dann blieb sie nach Luft schnappend stehen. Einfach so. Sie hätte noch weiterrennen können, aber sie blieb stehen, spürte, wie sich ihre Lungen in schnellem Rhythmus gegen die Rippen drückten, und schloss für einen Moment die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, fing etwas in ihrem rechten Augenwinkel ihren Blick auf, sie drehte sich herum - und schaute direkt in die großen Augen eines Goldfisches, sah schimmernde Blitze von Neonfischen, die sich wie ein einstudiertes Ballett im Gleichtakt durch das Wasser bewegten: Sie stand vor dem Schaufenster eines Aquarien-Fachgeschäftes. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es hier so etwas gab.
Schon wieder der Schwarm. Und die Einsamkeit. Vielleicht war sie tatsächlich selber so ein Fisch, glatt und schlüpfrig, den niemand anfassen wollte?
Sie schüttelte den Kopf, als ob sich die Gedanken damit abschütteln ließen, und betrat den Laden. Mehrere riesige Aquarien standen an den Wänden und verbreiteten durch ihre Beleuchtung ein dämmriges, grünliches Licht. Pumpen summten und sprudelten, sonst war kein Laut zu hören.
Was will ich eigentlich hier? Brauch doch gar nichts.
"Kann ich Ihnen behilflich sein?"
Erschrocken drehte sie sich um, hatte den älteren Herrn mit dem weißen Haarkranz und der großen Brille vorher gar nicht bemerkt.
"Äh, neinnein, ich - also, eigentlich wollte ich nur mal..."
"Schauen sie ruhig. Sie sehen nervös aus - so ein Aquarium beruhigt. Wirklich!" Er zwinkerte ihr zu und begab sich in eine Ecke des Raumes, in der sie nun einen kleinen Ladentisch entdecken konnte. Er hatte freundliche Augen: Lachfältchen rundherum.
Sie wandte sich wieder dem ihr am nächsten stehenden großen Glaskasten zu. Schillernd bunte Artenvielfalt, einige beinahe bewegungslos, nur die Flossen kreisend, andere schossen in geschäftiger Eile anscheinend sinnlos hin und her. Erst nach einer Weile entdeckte sie ein paar schlichtere, silbrige und braune Tiere.
Vielleicht bin ich einfach so eins, das man erst nach langem Hinschauen entdeckt. Dagegen lässt sich dann wohl nichts machen. Man ist eben so. Ob sie einsam sind?
Ein kleiner Wels sprang ihr ins Auge, graubraun gesprenkelt, unscheinbar und etwas unansehnlich mit dem breiten Maul. Sie begann zu suchen. War der Wels etwa allein? Sie konnte keinen weiteren entdecken.
Leise trat der alte Mann wieder neben sie. "Na, haben sie etwas gefunden?"
Sie sah ihn nicht an, während sie sprach. "Gibt es nur den einen Wels in diesem Aquarium?"
"Ich hatte bis vor kurzem noch zwei, aber der eine wurde verkauft. Mit der nächsten Lieferung bekomme ich neue."
"Glauben Sie, er ist traurig? Ich meine, bemerkt er das überhaupt?"
Er rückte seine Brille zurecht, und sie spürte, wie er sie von der Seite aufmerksam betrachtete. "Hmm", machte er dann, "Ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht so genau. Aber nach meiner Beobachtung sind Welse eher Einzelgänger. Ich weiß nicht, ob sie die anderen außerhalb der Paarung überhaupt registrieren."
"Sie meinen, er lebt nur, um zu fressen und sich fortzupflanzen, und alle anderen Fische in diesem Aquarium sind ihm piepegal?"
Er sah sie immer noch an, während er die Schultern hob und anfügte: "Wissen Sie, ich kann Ihnen nicht sagen, was dieser Fisch denkt oder fühlt, oder auch nur, ob er überhaupt etwas denkt und fühlt. Aber sehen Sie - mit den Fischen ist es in einer Hinsicht wie mit den Menschen: Sie werden in eine Umgebung gesetzt, die entweder liebevoll vorbereitet ist und in der sie sich wohl fühlen können, oder sie ist schlecht gemacht, dann fühlen sie sich wahrscheinlich unwohl. Nur dass es bei diesen Fischen der Mensch ist, beim Menschen das Schicksal, oder der Zufall, oder Gott - wie auch immer Sie es nennen mögen."
Der alte Mann machte eine Pause, lachte ein wenig und sagte: "Entschuldigen Sie, ich fange an zu philosophieren. - Möchten Sie den Wels nun mitnehmen?"
Sie war wie betäubt. Verwirrt schüttelte sie erst den Kopf und sagte dann "Ja", zahlte, nahm den Fisch mit und ging.
"Wiedersehn!", sagte er, sie drehte sich noch einmal zu ihm um und murmelte "Adieu", komisch, wie war sie auf dieses Wort gekommen, der alte Mann lächelte und zog die Fältchen um seine Augen zusammen.
Die Tür schlug hinter ihr zu, sie stand draußen und wusste mit einem Mal Bescheid. "Nennen Sie es Schicksal oder Gott..." Wie kann ein Aquarienhändler ein Engel sein?
Langsam ging sie nach Hause.
Sie öffnete die Wohnungstür, trat ein, schloss sie behutsam hinter sich, nahm sich keine Zeit, die Schuhe auszuziehen, sondern brachte als allererstes den kleinen Wels ins Wohnzimmer. Sie öffnete den Deckel und entließ ihn in seine neue Welt, die Umgebung, in der er sich entweder wohl oder unwohl fühlen würde - das hing von äußeren Faktoren ab: der Wassertemperatur, dem Licht, dem Futter und den beiden Artgenossen, die er hier vorfand. Sie würde sich Mühe geben, es ihm recht zu machen, aber sie konnte das nicht garantieren, sie war ja schließlich auch nur ein Mensch.
Gott aber, ihr Gott, der sie geschaffen hatte, der sich für sie hatte ans Kreuz nageln lassen, dieser Gott, an den sie doch glaubte, war eben nicht "auch nur ein Mensch", sondern Gott. Und er hatte sie an diesen Platz gestellt. Diesen Lebensraum ausgesucht. Die äußeren Faktoren waren für sie gar nicht entscheidend, sondern allein ihr Vertrauen auf ihren Herrn. Das Vertrauen, dass Er es gut machen würde. Dass Er wusste, was er tat. Das Vertrauen, das Glauben bedeutet.
Und mit einem Schlag wusste sie, dass auch ihre Einsamkeit nicht von den äußeren Faktoren abhing. Nicht von den Menschen um sie herum, auch nicht von ihrer eigenen Art, sondern allein von ihrer Angst. Ja: ihre Angst, einsam zu sein, hatte sie einsam gemacht, hatte jede zwischenmenschliche Beziehung von vornherein zu einem Krampf gemacht, der sie zum Scheitern verurteilte.
Sie hatte immer nur auf sich selbst gesehen - und die Hand vergessen, die sie ins Aquarium gesetzt hatte und ihr jeden Tag aufs Neue Futter in ihr Lebenselement streute.
"Siehst du, ich bin genau wie du", sagte sie zu dem Wels. Er guckte sie aus seinen starren Augen an - und setzte dann genau vor ihrer Nase sein breites Maul an die Glasscheibe an, um die darauf wachsenden Algen abzuweiden. Es sah aus, als wolle er ihr einen Kuss geben, und sie fing an zu lachen. Ganz leise nur, und sie wusste nicht, dass sich dabei um ihre Augen feine Fältchen zu kräuseln begannen.
© BzN
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