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Glockenturm

Wolken. Nichts als weiße Wolkenbäusche zu sehen, wenn er seinen Kopf zum Fenster hin drehte. Dabei hatte er sich schon so auf die Aussicht über die kleingewordene Erde unter dem Flugzeug gefreut. In all seinen Tagträumen war er nie auf den Gedanken gekommen, daß das Wetter anders sein könnte als sonnig und klar.
Naja, dann mußte er sich dieser Tatsache eben stellen und sein Buch aus dem Rucksack holen. Wenn sie erstmal in Mombasa gelandet waren, würde er jedenfalls noch genug Sonne abbekommen. Er versuchte, sich auf den "Reiseführer Kenia" zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften immer wieder von der trockenen Lektüre ab.
Er konnte es immer noch kaum glauben, daß er, Andreas Winter, 23-jähriger Student der Zoologie, jetzt in diesem Flugzeug saß und auf dem Weg zu seinem Traumziel Afrika war. Was hatte sein Vater unter dem Weihnachtsbaum gesagt - "Eigentlich ist es ja ein recht nutzloser Luxus, aber da es dein größter Wunsch schon seit Jahren und also nicht nur eine kurze Laune ist, haben wir alle zusammengelegt, um dir eine Reise nach Afrika schenken zu können. Hoffentlich macht sie dir auch wirklich Freude!"
Oh, da war er sich sicher! Er würde die unendlich scheinende Weite der Savanne sehen, mit all den Tieren... Er würde die Mentalität der Afrikaner kennenlernen, ihre Lebensart - und vielleicht sogar eine Freundschaft schließen... Es konnte ja gar nicht anders als wunderschön werden! ... Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schlief er ein.

Erst die Durchsage kurz vor der Landung weckte Andreas auf. Pflichtbewußt schnallte er sich an, dann sah er aus dem Fenster. Hier über Mombasa war der Himmel frei und er konnte ungehinderten Blickes die Landung verfolgen.
"Excuse me", hörte er da auf einmal neben sich eine angenehm dunkle Stimme, und eine Hand legte sich auf seinen Arm.
Er riß sich von der Aussicht los. Auf dem Sitz neben ihm saß ein Afrikaner und sah ihn aus ruhigen Augen in dem dunklen Gesicht an. "Do you speak English? Could you help me please?"
Als Andreas nickte, fuhr er fort: "Do you know Mombasa? Do you know where there is a protestant church there?"
Eine seltsame Frage, dachte Andreas, während er sein im Laufe der nach dem Abitur vergangenen Jahre spärlicher gewordenen Englischkenntnisse hervorzukramen versuchte, um eine bedauernde Antwort herauszubringen, es gibt sicher 'ne ganze Menge evangelischer Kirchen da. Aber das sagte er nicht laut.
"Thank you nevertheless."
Das Flugzeug setzte mit einem sanften Ruck auf und rollte die Landebahn entlang. Andreas betrachtete seinen Nachbarn nun genauer, verstohlen aus den Augenwinkeln zu ihm hinüberschielend.
Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein, trug sein Haar kurzgeschoren und war in eine braune Cordhose und ein weißes T-Shirt gekleidet, über das er eine hellbraune Jacke geworfen hatte. Andreas hatte sich seinen Sitznachbarn vorher gar nicht weiter angesehen. Schade eigentlich - da saß man stundenlang nebeneinander und wechselte nicht einmal einen Blick!
Der große "Vogel" wurde jetzt langsamer und blieb schließlich stehen. Eine verabschiedende Durchsage vermittelte gute Wünsche der Crew, dann öffneten sich die Türen, die Gangway wurde ausgefahren, und die Passagiere betraten afrikanischen Boden.
Als Andreas so richtig bewußt wurde, daß er sich jetzt tatsächlich im Land seiner Träume befand, war er schon längst mit seinem Koffer auf dem Weg zur nächsten Autovermietung. Er fand schnell einen praktischen, nicht zu teuren Wagen, und als er sich in den Fahrersitz fallen ließ, war er sehr froh, daß seine Familie ihm keine fix und fertig programmierte Gruppenreise von Neckermann geschenkt hatte - allein die Vorstellung, jetzt noch eine Fahrt in einem mit alten Damen und bierbäuchigen Ehemännern vollgestopften Bus über sich ergehen lassen zu müssen, machte ihn schaudern.
Er startete den Wagen und stieß zurück, doch noch während er schaltete, sah er plötzlich, wie eine Gestalt auf sein Auto zugelaufen kam und erkannte seinen Sitznachbarn aus dem Flugzeug. Er kurbelte die Scheibe herunter.
"Sorry, I think you must find me ennerving, but... The next bus will go in three hours! I have to be there before!"
Die letzten beiden Sätze hatte er sehr hastig gesprochen. Etwas aufdringlich fand Andreas ihn ja schon, aber trotzdem öffnete er die Beifahrertür. Der andere stieg ein und bedankte sich tausendmal, bevor er erklärte, wohin er wollte - tatsächlich zu einer evangelischen Kirche irgendwo in der Innenstadt Mombasas. Er hatte wohl inzwischen auch aus anderer Quelle erfahren, wo genau sich diese befand, denn er konnte Andreas anhand eines Stadtplanes genau erklären, wohin sie zu fahren hatten.
Erst als sie bereits fuhren, kam ihm die Idee, daß es ja sehr gut möglich war, daß der Mann, den er da so leichtfertig in sein Auto gelassen hatte, gleich eine Pistole aus der Tasche ziehen würde... Aber als sich nach einigen Minuten noch nichts derartiges getan hatte, sondern sein Beifahrer immer aufgeregter wurde, je mehr sie sich durch das Straßengewirr seinem Ziel näherten, beruhigte er sich wieder.
Na, was soll's, dachte er, als er wieder um eine enge Kurve in eine Seitenstraße bog, so sehe ich wenigstens noch mehr von Mombasa als nur den Weg zum Hotel.
"There it is!" jubelte sein Mitfahrer, als ihnen schließlich in der angegebenen Straße ein winziger Glockenturm entgegenwinkte. Direkt vor dem dazugehörigen Kirchenschiff stoppte Andreas den Wagen. Der andere stieg aus. Nur kurz zögerte Andreas, dann siegte die Neugier. Auch er verließ das Auto und betrat hinter dem Schwarzen das sich nur durch das Türmchen von den anderen Häusern unterscheidende Gebäude.
Er hatte ungefähr seit seiner Konfirmation keine Kirche mehr von innen gesehen, doch er konnte sich auch nicht erinnern, jemals in einer gewesen zu sein, die so aussah wie diese. Nach seiner Erfahrung waren Kirchen riesig groß, dunkel und bestanden hauptsächlich aus einem Altarraum, einer Orgel und langen Reihen von schrecklich unbequemen Bänken. Diese hier war sogar etwas kleiner als die umliegenden Häuser, mit großen Fenstern ausgestattet, die dem Raum eine freundliche Helligkeit gaben; statt Bänken gab es hier Stühle, und er konnte weder Altar noch Orgel entdecken, sondern nur ein etwas angeschlagenes Klavier. Zuerst dachte er, der Raum sei leer, doch als er sich genauer umsah, entdeckte er einen älteren dunkelhäutigen Mann, der anscheinend in Gebet versunken auf einem Stuhl ganz hinten in der Ecke saß. Auch sein Begleiter hatte ihn nun entdeckt; er schien ihn zu erkennen, und ein leiser Seufzer entrang sich seiner Kehle. Der andere blickte auf - und zuckte zurück, schien Andreas' Flugnachbarn ängstlich und doch zugleich liebevoll entgegenzublicken.
Andreas hätte gern gewußt, was hier vor sich ging, doch er hatte das Gefühl, daß sich zwischen diesen beiden Menschen etwas Großes anbahnte, bei dem er nicht stören durfte, und so stand er nur still da und beobachtete, wie der Fremde aufstand und die beiden nun schwer atmend voreinander standen. Stumm standen sie voreinander, bis der Jüngere leise, kaum vernehmlich, ein Wort sagte, während ihm eine Träne über das Gesicht lief, ein einziges Wort: "Dad!"

Andreas warf sich auf sein Hotelbett und starrte zur Decke empor. Nie würde er diesen Tag vergessen, niemals! Er konnte immer noch kaum glauben, was ihm seine Flugzeugbekanntschaft erzählt hatte - einem Menschen vergeben zu können, der die Mutter vergewaltigt und einen selbst oft geschlagen hatte! Und wenn es tausendmal der eigene Vater war, der das alles längst bereute und sich zu entschuldigen versuchte - wie konnte man so jemanden unter Tränen umarmen?
Der Sohn hatte gesagt, das käme daher, daß er vor einiger Zeit Christ geworden sei. Christ sein - was hatte denn das schon im wirklichen Leben zu bedeuten? Natürlich kannte auch Andreas die Grundsätze dieser Religion, schließlich hatte er ja den Konfirmandenunterricht abgesessen, aber - er hätte nie gedacht, daß irgend jemand auf dieser Welt Dinge wie "Liebet eure Feinde" wirklich in die Tat umsetzte - oder überhaupt umsetzen konnte!
Er schlief wenig in dieser Nacht. Auch als er am nächsten Tag endlich in seiner Unterkunft in einem kleinen Hotel ankam, das sich in der Nähe eines großen Naturreservates befand, war er nicht ganz bei der Sache. Er versuchte, die Gedanken zu verdrängen, die sich aber nicht verdrängen ließen - Gedanken über Gott und Jesus, über deren Existenz, und welche Konsequenzen ihre Existenz für sein Leben haben würde.

Müde saß er hinter dem Lenkrad seines Mietwagens, während dieser über die staubige Straße zurück zum Hotel rollte. Eine Fotosafari durch das Schutzgebiet hatte diesen Tag ausgefüllt; anstrengend und aufregend war es gewesen, aber wunderschön. All die Gazellen und Antilopen, die Zebras, Gnus und Giraffen, die Flußpferde und Löwen - natürlich nicht so nah wie im Zoo, und doch so unendlich viel schöner, denn diese Tiere waren frei, sie lebten nicht hinter Gittern, sondern so, wie es ihrer Natur entsprach, wie es für sie richtig war - oder wie Gott es für sie vorgesehen hatte? ...
Er versuchte, seine Gedanken nicht zu weit von der Straße wegdriften zu lassen. Gerade fuhr er durch ein kleines Dorf - einer der in dieser von Touristen verseuchten Gegend typischen mit Souvenirsverkäufern vollgepackten Orte. Stand an Stand reihte sich an der Straße entlang, und auch noch um diese Uhrzeit drängten sich mit bunten Hemden und Bermudashorts bekleidete Andenkenjäger darum, die mehr und mehr Unnützes zum Hinstellen kauften.
Richtig lächerlich, dachte Andreas, so typisches Touristenverhalten...
In diesem Augenblick sah er, wie ein kleiner, brauner Schatten beinahe direkt vor seinem Kühler über die Straße huschte. Er schrie auf und trat gleichzeitig mit voller Kraft auf die Bremse.
Das Auto schleuderte mit quietschenden Reifen ein Stück, ehe es stehenblieb. Benommen saß er zuerst da, Bruchteile von Sekunden nur, doch er hatte das Gefühl einer halben Ewigkeit.
Ein Kind! Er hatte ein Kind angefahren!
Mit einem Ruck öffnete er die Tür, sprang aus dem Wagen und stürzte mehr als er lief nach vorne. Er beugte sich nieder - und blickte direkt in die vor Schreck weit aufgerissenen Augen eines kleinen Mädchens, das nur zehn Zentimeter von den Reifen entfernt auf dem Boden saß, und dem außer einem staubigen Gesicht nichts passiert war. Vorsichtig nahm er es hoch und drückte es an sich. Kein Wort brachte er über die Lippen.
Erst als die Mutter des Kindes schreiend angelaufen kam, er das Kind auf den Boden stellte und es weinend zu ihr lief und sich an ihrem Rock festkrallte, da erst löste sich seine Anspannung in drei Worten:
"Gott sei Dank!"
Und er meinte es ehrlich.

© BzN

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