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Sie

(Johannes 8, 2-11)

Es war einfach so passiert. Im Grunde war ihre Ehe immer sehr gut gewesen, und eigentlich liebte sie ihren Mann ja auch immer noch - aber dann war ihr dieser unglaublich männlich-attraktiv wirkende Typ über den Weg gelaufen. Sie hatte ihn und er hatte sie begehrt, und dann war es eben passiert. Nach dem ersten Mal hatte sie sich noch ein klein wenig geschämt, die folgenden Male nicht mehr. Es war einfach nur schön, und sie genoss auf eine seltsame Art auch das Verbotene ihrer Beziehung.
Bis heute war alles immer gutgegangen. Bis heute. Als sie in flagranti erwischt wurden. Was mussten diese Arbeiter auch ausgerechnet zu dieser Zeit an genau diesem Ort vorbeikommen? Er war abgehauen. Hatte sich versteckt, sie im Stich gelassen, als sie sie packten und wegzerrten, halb angezogen, wie sie war. Sie hatten nach ihm gesucht, aber er war nicht aufzufinden. Hatte seine Haut gerettet. Erkannt hatten sie ihn auch nicht. Aber sie.
Jetzt schleiften sie sie weg, zur Anklage. Vor den Hohen Rat, vor die Frommen, die ständig auf die Gebote pochten. Aber sie wurde nicht sofort verurteilt. Sie flüsterten und berieten und machten zufriedene Gesichter, dann wurde sie wieder rauh angefasst und mitgeschleift. Gezogen, gezerrt, geschubst bis zum Tempel.
Dort saß ein Mann, ganz ruhig sprach er zu einer Gruppe Menschen.
Sie rissen sie hin zu dieser Menge, stießen sie in die Mitte. Jeder konnte ihre Blöße sehen. Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Sie stand nur regungslos da.
Einer ihrer Richter sprach den Sitzenden an. Was er dazu meinte. Ob sie sie steinigen sollten, wie es im Gesetz stünde.
Er antwortete erst nach langem Drängen. Scheinbar völlig emotionslos. Aber in seinen Augen sah sie etwas leuchten.
Wer von euch noch nie gesündigt hat, der soll den ersten Stein werfen.
Sie wartete auf den ersten Stein. Doch niemand warf ihn. Zuerst schlichen sich die Gesetzeshüter davon, dann alle anderen.
Wer von euch noch nie gesündigt hat. Auch die Frommen nicht? Niemand?
Er! Würde er werfen?
Er schrieb mit dem Finger auf die Erde und beachtete sie nicht.
Irgendwann hob er den Kopf, sah sie lange an, stand auf und fragte, wo ihre Ankläger seien. Ob niemand sie verurteilt habe.
Nein, sagte sie, niemand. Und wartete auf seinen Stein.
Dann wolle er es auch nicht tun, sagte er. Geh, und sündige ab jetzt nicht mehr.
Er hätte den Stein werfen können.

© BzN

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